New Work Medizin zu Besuch auf dem Ärztetag Aschaffenburg
Auf der Suche nach neuen Zusammenarbeits- und Organisationsformen im Gesundheitswesen trafen sich am 08.Oktober 2022 rund 100 Interessierte zum Thema “New Work in der Medizin” beim 2. Aschaffenburger Ärztetag. Als thematische Einstimmung zeigte das Casino Aschaffenburg bereits am Freitagabend den Film “Vier Sterne plus” mit und über David Ruben Thies, Geschäftsführer der Waldklinik Eisenberg, und seine Vision der Klinik von morgen.
Den Ärztetag eröffnete Philipp Busche, Chefarzt an der Klinik Arlesheim (CH), ganz im Sinne eines achtsamen Einstiegs mit einem Check-in zu den Fragen: Was hat deine Aufmerksamkeit und warum bist du hier? Er spannte den Bogen der verschiedenen Qualitäten von Generation X,Y und Z mit dem Fokus darauf, was wir voneinander lernen können.
Was heißt es, wenn verschiedene Generationen authentisch auf Augenhöhe im Klinikalltag zusammenarbeiten wollen?
Anhand seiner eigenen Erfahrungen aus dem Klinikalltag beschrieb er den Transformationsprozess weg von starren Hierarchien hin zu aktiver Entwicklung und Erlernen von Teamkompetenzen, um gemeinsam Verantwortung zu tragen. Die Bewegung vom Ich zum Wir kann dabei kraftvoller gelingen, wenn es einen gemeinsamen Sinn oder leuchtenden Stern gibt, nachdem sich das Team stets ausrichten kann.
Anschließend erklärte Hubertus Schmitz-Winnenthal, Mitorganisator der Veranstaltung und Chefarzt der chirurgischen Station der Klinik Aschaffenburg-Alzenau, die Idee der bedürfnisorientierten Arbeit anhand eines sehr bildlichen Vergleichs: Er verglich eine Maschine mit einem Mitarbeitenden im operativen Tagesgeschehen. Die Maschinen, wie z.B. unsere Autos zeigen uns mit einer Warnlampe den Öl- oder Benzinmangel an und wir sind stets bestrebt, diesen zu beheben.****
Doch wo werden die Bedürfnisse der Mitarbeitenden im Gesundheitssystem sichtbar?
Laut Grundlage der gewaltfreien Kommunikation haben alle Menschen die gleichen Grundbedürfnisse unabhängig vom Alter, jedoch sind diese im Individuellen ganz verschieden gewichtet.
Als eine Möglichkeit, Bedürfnisse von Mitarbeitenden wieder sichtbar werden zu lassen, beschreibt Schmitz-Winnenthal die Selbstorganisation. Mit ihren Methoden können Bedürfnisse sogar in den medizinischen Alltag eingebracht und als Motor bzw. Potentialkraft zur verantwortlichen Mitgestaltung innerhalb des Teams genutzt werden. Wie stark er davon überzeugt ist und Selbstorganisation in seiner Klinik bereits umgesetzt hat, wurde für den Zuhörer mit Spannung als letzter Programmvortrag erfahrbar.
Erste Erfahrungen und Berichte von neuen Arbeitseinsätzen im Gesundheitswesen gabe es in bunter Fülle zu hören:
Die Pionierin Anne-Gritli Göbel-Wirth stellte mit einer überzeugenden Ausstrahlung die Projektvision „Lebensgarten grüne Aue“ mit Praxis, Belegbetten, Kulturstätte, Café, Kindergarten und vieles mehr vor. In einer kleinen 2300 Seelengemeinde auf der Schwäbischen Alb in Hermaringen wurden erste Meilensteine vom Projektteam in enger Zusammenarbeit mit der Gemeinde bereits erreicht. Konkret sind das die Gemeinschaftspraxis und eine Bürgergenossenschaft u.a. als eine Möglichkeit der Querfinanzierung neben den kassenärztlichen Leistungsabrechnungen.
Ihre Erkenntnis, was es für die Umsetzung einer Vision braucht, sind Mut und die passende innere Haltung, um auch „aus dem Nichtwissen heraus den nächsten Schritt für die Vision zu gehen“.
Von Mut und der passenden inneren Haltung berichtete auch Jos de Blok, einer der bekanntesten Visionär im Sozial- und Gesundheitswesen. Mit seiner Organisation Buurtzorg revolutionierte er den ambulanten Pflegedienst in den Niederlanden und steht als ein Leuchtturm für sinnstiftende Arbeit in selbstorganisierten kleinen Teams. Mit aktuell 15.000 Mitarbeitenden konnte aus einer Vision vor 16 Jahren sogar bis auf die politische Ebene Einfluss genommen werden.
Inzwischen wurde das Buurtzorg-Modell schon in 24 Ländern verwendet, unter anderem auch in Deutschland. Gunnar Sander und Mark Adolph sprachen gemeinsam über die Herausforderungen, die die Einführung des Buurtzorg-Modells in Deutschland mit sich brachte. Eine große Erkenntnis sei, dass Selbstorganisation nicht von heute auf morgen gelingen kann, sondern einer Entwicklung/Coaching bedarf.
Nach einer Mittagspause wurde Vera Starker, die Mitautorin vom Buch „New Work in der Medizin“ online zugeschaltet. Sie untermauerte die Erkenntnis, auf das zu schauen, was möglich ist und nicht auf den Mangel oder die Probleme. Denn „die Energie der Veränderung kommt aus einem starken Bild der Zukunft“.
Im Sinne der Bremer Stadtmusikanten (“etwas besseres als den Tod finden wir allemal”) schlossen Nadja Nardini, Felix Herter und Hubertus Schmitz-Winnenthal mit der Vorstellung der neuen Projektstation “Meine Station” das Programm. Um Ökonomisierung, Fachkräftemangel und Zeitdruck eine nachhaltige Alternative entgegenzusetzen, planen sie ab dem kommenden Jahr eine Station am Klinikum Aschaffenburg-Alzenau, die sich selbst verwaltet und organisiert. Das interdisziplinäre Stationsteam aus Pflege, Ärzt*innen und anderen Gesundheitsberufen strukturiert dabei eigenständig die Abläufe und Prozesse der täglichen Arbeit, um diese an die jeweiligen Bedürfnisse der Beschäftigten anzupassen.
In einer gemeinsamen Abschlussrunde sammelten die Redner und Rednerinnen des Tages ihre Wünsche und Visionen für die Zukunft der Medizin und entließen das gespannte Publikum mit inspirierenden Impulsen und Ideen in das Wochenende.